Gehörst du auch zu den Menschen, deren Tage vollgepackt sind mit To-dos, die aber letztendlich trotzdem immer das Gefühl haben, kaum etwas Schönes erlebt zu haben? Die Lösung: viel öfter im Hier und Jetzt sein. Und nicht so viele Momente einfach vorbeirauschen lassen. Genau das ist Achtsamkeit.
Was bedeutet Achtsamkeit?
Wenn du bewusster lebst, wird sichtbar, was gerade in diesem Moment passiert – um dich herum und in dir selbst. Klingt einfach, und doch fällt genau das im Alltag oft so schwer. Im Interview erklärt Andreas de Bruin, Professor für Achtsamkeit und Meditation an der Hochschule München, wie sich Achtsamkeit lernen lässt und warum gerade die aktive Achtsamkeit so wichtig ist.
Auf der Couch liegen, Chips essen und Netflix gucken: Ist das schon Achtsamkeit?
Auch wenn das sicherlich sehr entspannend ist, lautet die Antwort leider nein. Denn in diesem Fall wird die Aufmerksamkeit zu sehr geteilt, weil man isst und gleichzeitig fernsieht.
Es ist aber doch unrealistisch, ohne TV und Smartphone auszukommen. Also: Ade, Achtsamkeit?
Jede Handlung kann schlussendlich achtsam ausgeführt werden. Nur ein ständiges und unkontrolliertes Benutzen führt zum Automatismus und sogar zu einer Abstumpfung gegenüber der Realität. Aktive Achtsamkeit im Umgang mit digitalen Geräten kann helfen, sie bewusster und kompetenter einzusetzen. Die Lösung ist ein selektiver digitaler Konsum.
Wie lernt man Achtsamkeit? Wie lebt man noch bewusster?
Achtsamkeit ist die Fähigkeit, das augenblickliche Tun in seiner Ganzheit bewusst wahrzunehmen, zu beobachten und nicht zu bewerten. Das kann im Gespräch, beim Kochen oder Essen, beim Spazierengehen, und ja, sogar bei ungeliebten Aufgaben wie dem Geschirrspülen oder Putzen sein.
Achtsamkeit wird oft als passiv wahrgenommen. Aber ist es nicht praktikabler, sie aktiv in den Alltag zu integrieren?
Grundsätzlich ist Achtsamkeit eine innere Haltung, die sowohl eine aktive als auch eine passive Komponente hat. Es verlangt eine gewisse aktive Ausrichtung, um immer in der Gegenwart zu sein. Das möglichst ununterbrochene Verweilen im Jetzt ist eine aktive, intentionale Tätigkeit. Wenn man es schafft, Achtsamkeit als innere Haltung zu haben, kann man sie in alle möglichen Facetten des Lebens bringen. Die aktive Achtsamkeit ist so gesehen die lebendige Achtsamkeit.
Und was heißt aktive Achtsamkeit? Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ich zum Beispiel bin Schwimmer, und wenn ich beim Kraulen meine Bahnen ziehe, nehme ich wahr, wie die Hände ins Wasser eintauchen, ich spüre die Temperatur, höre das Geräusch, spüre meine Beine. Obwohl diese Handlungen sehr aktiv und recht schnell sind, kann ich dennoch sehr präsent im Moment sein und die Abläufe sehr bewusst wahrnehmen.
Oder ein anderes Beispiel: Ein Bergsteiger erzählte mir kürzlich, dass nach seiner getanen Anstrengung, den Gipfel zu erreichen, das Pausenbrot so ganz anders schmeckte. Eine bewusstere Wahrnehmung – auch das ist aktive Achtsamkeit.
Jegliche Art von Sport gehört also auch dazu?
Grundsätzlich ja. Wir müssen aber eine leichte Grenze zwischen der Achtsamkeit und dem sogenannten Flow-Erlebnis ziehen. Das wäre so gesehen eine weitere Stufe über die Achtsamkeit hinaus, bei der wir restlos in der Tätigkeit aufgehen.
Das kann sogar für ein starkes Glücksgefühl und eine gesteigerte Leistung sorgen. Schlecht ist das natürlich nicht, wir sind nur nicht mehr bewusst achtsam bei der Tätigkeit.
Wie wirkt Achtsamkeit auf das Gehirn?
Wir sehen, dass das sogenannte Mind-Wandering weniger wird und damit auch das Grübeln. So wird auch das Stressempfinden reduziert, was sich in der Nervenzellendichte im Hippocampus und im rechten Mandelkern anhand von Gehirnaufnahmen mittels MRT nachweisen lässt.
Bei Achtsamkeitsübungen, die die Körperwahrnehmung vertiefen, wie Meditation oder Bodyscan, sehen wir, dass im Inselcortex die Nervenzellendichte zunimmt. Dieser Gehirnbereich ist zuständig für die Verknüpfung von Geist und Körper. Stress wird so schneller durch Körpersignale wahrgenommen. Menschen, bei denen es zu einem Burn-out kommt, können diese Signale nicht richtig deuten oder überhaupt nicht wahrnehmen.
Warum schadet ein Mangel an Achtsamkeit?
Die Verbindung nach innen ist uns ziemlich abhandengekommen. Wir haben heutzutage keine Zeit mehr, uns nach innen zu richten. Wir suchen Zufriedenheit noch sehr im Konsum und in Anerkennung, die von außen kommt. Aber viele merken, dass dieses vermeintliche Glück nicht lange anhält und die Aufrechterhaltung sehr anstrengend ist. Deshalb suchen immer mehr Menschen neue Wege, die mehr Zufriedenheit und Gelassenheit ermöglichen, und entdecken dabei die Achtsamkeit für sich.
Wie intensiv muss ich mich dafür mit meinen Problemen auseinandersetzen?
Wir sollten uns wirklich nicht zu viele Gedanken über unsere Probleme machen. Was wir konkret lösen können, sollten wir versuchen zu lösen. Was nicht, sollte uns nicht zu stark belasten.
Wobei hilft Achtsamkeit?
Die Einsicht zu erlangen, dass viele Gedanken nur eine geringe Bedeutung haben, ist häufig schon eine Lösung. Außerdem hilft Achtsamkeit dabei, die Gedanken besser ordnen zu können und sich über einiges klarer zu werden.
Eine aktive Achtsamkeit schult grundsätzlich die Aufmerksamkeit für Ereignisse, die im gegenwärtigen Moment stattfinden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der bewussten Wahrnehmung. Ziel ist die Kultivierung einer wachen, sensiblen und liebevollen Haltung gegenüber den Wahrnehmungen und letztendlich auch gegenüber uns selbst.
Die Einsicht über eigene Gedanken, Gefühle und Handlungen und deren Wechselwirkungen führt dazu, dass wir nicht mehr Spielball dieser Werkzeuge sind. Wir haben uns im Griff und können uns selbst besser lenken.
Und wie sieht das ganz konkret im Alltag aus?
Vor allem Freude daran haben, im Jetzt zu sein. Neugierig sein und den sogenannten Anfängergeist pflegen. Es gibt immer und überall so viel Neues zu entdecken. Zum Beispiel kann man auf dem Weg zur Arbeit versuchen, immer nach etwas Ausschau zu halten, das man noch nie gesehen hat. Oder in Gesprächen mit Mitmenschen richtig schauen, richtig zuhören – aber alles mit Freude und Gelassenheit.
Auf keinen Fall darf Achtsamkeit mechanisch werden. Ebenfalls wichtig: mit Humor aufs eigene Denken schauen und prüfen, wie oft von einem Gedanken zum nächsten gewechselt wird. Dadurch ist man wieder mehr im Jetzt und reduziert automatisch die verbrachte Zeit im Autopilotmodus.
Also ist Achtsamkeit auch eine gute Methode, um den schnöden Trott lieben zu lernen?
Wenn wir der lauten und hektischen Realität bloß versuchen zu entfliehen, können wir sie nicht neu gestalten. Durch das Ausleben der achtsamen Ansätze können wir besser Wege finden, die Hektik des Alltags zu verringern, sogar zu beenden. Achtsamkeit ist eine innere Haltung, die automatisch zu Veränderungen führt und uns lehrt, mit dem Leben verantwortungsvoller umzugehen.
Ist das abhängig von der Tagesform oder funktioniert es immer?
Manchmal hat man mehr Energie, manchmal weniger. Das wirkt sich auch darauf aus, in welcher Situation und bei welcher Tätigkeit man achtsam sein möchte oder kann.
Wie viel Zeit sollte man sich für Achtsamkeit im Alltag nehmen?
Mein Vorschlag wäre, kleine Achtsamkeitsansätze in den Alltag einzubauen, so einen gewissen Gefallen daran zu finden und das Ganze allmählich schrittweise zu erweitern. Und es natürlich zu verinnerlichen. Dann geht es automatisch weiter. Wenn es gelingt, die Achtsamkeitspraxis mehr und mehr als innere Haltung zu leben, wird es mit der Zeit viel einfacher. Und das wird das Leben extrem bereichern.
In einer Zeit des Leistungsdrucks kommen ruhigere Momente oft zu kurz. Dabei ist bewiesen: Wer Achtsamkeit aktiv in den Alltag integriert, lebt gesünder und glücklicher! Deshalb gilt: Üben, üben, üben – und du wirst Achtsamkeit so irgendwann ganz selbstverständlich als Teil deines Lebens sehen.
Interview: Maximilian Immer