Laufweisheiten: Stimmen die Regeln des Laufens noch?

Laufregel-Update
An diese alten Läuferweisheiten solltest du dich nicht mehr halten

Zuletzt aktualisiert am 13.08.2024
Damit Laufen vom ersten Schritt an Spaß macht
Foto: Jacob Lund / Shutterstock.com

In den rund 50 Jahren, die seit der "Erfindung" des modernen Laufsports vergangen sind, haben sich einige ungeschriebene Gesetze der Trainingsgestaltung etabliert, an die wir uns geradezu sklavisch halten, ohne sie je zu hinterfragen. Stimmen die überhaupt noch?

Selbst viele Laufexperten können dir nicht mehr sagen, warum ein langer Lauf grundsätzlich an einem Sonntag stattfinden sollte. Dabei ist die Regel, dass man sonntags lang und langsam laufen soll, in Läuferkreisen wie in Stein gemeißelt. Manche Regeln zeugen von zeitloser Weisheit (nicht gegen den Wind spucken!), andere sind seit Jahrzehnten widerlegt (Frauen können nicht mehr als 3000 Meter laufen).

Auf den ersten Blick sind oft die hilfreichen von den unsinnigen kaum zu unterscheiden. Deshalb haben wir erfahrene Läuferinnen und Trainer befragt, welche der bekannten Weisheiten zeitgemäß sind – und welche nicht. Dass der Sonntag ideal für den langen Lauf ist, passt übrigens noch immer, denn er ist nun mal der Tag, an dem man am meisten Zeit hat.

1. Vor dem Laufen ist Dehnen Pflicht

Das statische Dehnen, bei dem man langsam in eine Muskelspannung hineindehnt, gehört zum Standard-Aufwärmen vieler Läuferinnen und Läufer. Seit einiger Zeit aber verdichten sich Hinweise, dass überdehnte Muskeln weniger Energie speichern können. Die Folge: häufigere Verletzungen.

Tipp: Wärme dich am besten mit dynamischen Dehnübungen auf – auch bekannt als Lauf-ABC. Das sind Laufbewegungen, bei denen du die Knie übertrieben stark hebst (Skippings) oder die Füße bei jedem Laufschritt an den Po wirfst (Anfersen).

2. Das Training muss strukturiert sein

Wer gerne läuft, liebt die Routine. Dazu gehört, das Training Woche für Woche und Tag für Tag durchzuplanen. Grundsätzlich kann das die Laufmotivation erhöhen, es birgt aber auch Gefahren: Es lässt nämlich weder Freiräume für Formschwankungen noch für eine Trainingsumstellung. Ein strukturierter Plan kann sogar dazu verleiten, trotz Krankheit oder Verletzung an ihm festzuhalten. Eine flexible Trainingsplanung eignet sich dagegen viel besser, plötzlich auftretende Verpflichtungen beruflicher oder familiärer Art zu berücksichtigen. Oder nach harten Laufbelastungen auch mal spontan eine Pause mehr einzulegen, um sich zu erholen.

Tipp: Mach dir einen Plan, der Trainingseinheiten nicht Tag für Tag terminiert, sondern nur festlegt, welche Einheiten im Laufe der Woche absolviert werden sollen. Und dann verfolge, welche der geplanten Läufe du bereits abhaken kannst. Wenn du schon am Freitag mit dem Programm durch bist – prima, dann kannst du am Wochenende ausspannen … oder zur Abwechslung mal eine Runde Rad fahren.

3. Steigerungsläufe gehören zum Renntag

Das Aufwärmen vor einem Wettkampf läuft fast überall gleich ab: erst leichtes Joggen, dann ein wenig Stretchen und zum Schluss eine Serie von 3 bis 10 Steigerungen. Das sind Läufe, bei denen über etwa 10 Sekunden das Tempo vom langsamen Trab bis zum höchsten Sprinttempo gesteigert wird.

Grundsätzlich ist das sinnvoll, denn durch die erhöhte Herzfrequenz wird schon vor der eigentlichen Belastung vermehrt sauerstoffreiches Blut in die Laufmuskeln transportiert. Sportphysiologe und Laufexperte Jack Daniels hält Steigerungen in dieser Form aber für kontraproduktiv: "Sie enden immer im Sprinttempo, das sehr viel schneller ist als das Wettkampftempo. Da man anschließend aber bis zum Startschuss keinen Meter mehr läuft, hat man im Augenblick, in dem es losgeht, noch dieses extrem hohe Tempo im Kopf, was dazu führt, dass man viel zu schnell losstürmt. Die Folge sind frühzeitige Ermüdung und ein Tempoeinbruch."

Tipp: Vor 5- oder 10-Kilometer-Läufen lieber langsam einlaufen und dann 3 Steigerungen machen, bei denen du das Tempo aber nur bis aufs Renntempo steigerst. Danach einfach noch einmal 5 Minuten lang joggen. Eine gute Alternative zu klassischen Steigerungen: sich nach dem Einlaufen einfach nur 2-mal 2 Minuten in einem Tempo fordern, bei dem du leicht außer Atem kommst.

4. 35 Kilometer vor einem Marathon sind genug

In den meisten Marathontrainingsplänen wird der längste Lauf mit 35 Kilometern angesetzt. Die letzten 7 Kilometer sind für Wettkampf-Neulinge folglich unbekanntes Terrain. "Das ist eher ein mentales als ein physiologisches Problem", sagt Laufcoach Jeff Galloway. "Denn bei der hohen Gesamtbelastung reichen 35 Kilometer an sich aus."

Tipp: Dein Ziel für den Marathon lautet einfach nur Ankommen? Dann versuche, 4 Wochen vor dem Renntag 1-mal die komplette Distanz zurückzulegen, und zwar langsam und mit längeren Gehpausen, um dich nicht zu überlasten. Wenn du gerne unter 4 Stunden bleiben willst, dann belasse es bei den 35-Kilometer-Läufen, aber laufe einmal vorher am selben Tag 2-mal 21 Kilometer, morgens und abends.

5. Wer nicht dranbleibt, verliert

Wenn Läuferinnen und Läufer verletzt sind und nicht laufen können, steigen sie gerne aufs Rad oder gehen zum Aquajogging, um die Form zu halten. Wenn sie dann wieder laufen können, haben sie kaum an aerober Fitness verloren. Der Haken: Das ewige "Dranbleiben" überfordert den Körper und man verletzt sich im Nu wieder. "Durch das Alternativtraining hat man zwar einen Motor wie ein Sportwagen, aber nach der Verletzungspause nur noch das Fahrwerk eines Kleinwagens. Das passt nicht zusammen", sagt Trainer-Legende Renato Canova. Herz und Kreislauf sind fit, aber Muskeln, Sehnen und der Knochenapparat müssen sich erst wieder ans Laufen gewöhnen.

Tipp: Ein behutsamer Wiedereinstieg ins Lauftraining ist nach einer Verletzung unerlässlich. Um diesen sinnvoll vorzubereiten, solltest du in der Laufpause nur halb so viel Zeit wie sonst für aerobe sportliche Belastungen aufbringen und die gewonnene Zeit lieber nutzen, um an muskulären Defiziten zu arbeiten.

6. Je dünner, desto schneller

Ein superschlanker Körper ist so etwas wie ein Markenzeichen ambitionierter Läuferinnen und Läufer – nach dem Motto: Warum soll man beim Laufen Muskeln mit sich herumschleppen, die man dazu überhaupt nicht braucht? Was bei dieser Regel aber völlig ignoriert wird: Ein stabiler Oberkörper und besonders eine stabile Körpermitte unterstützen die Laufökonomie. Je weniger Energie zur Stabilisierung des Rumpfs benötigt wird, desto mehr steht den Beinmuskeln zur Verfügung.

Tipp: Mache 2-mal pro Woche ein Krafttraining, das Übungen für den ganzen Körper beinhaltet. Beim Oberkörper vor allem auf Bauch und Rücken konzentrieren.

7. Maximal 10 Prozent pro Woche mehr

Um einer Überlastung vorzubeugen, solltest du deinen wöchentlichen Kilometerumfang nie um mehr als 10 Prozent erhöhen. War der letzte lange Lauf also 25 Kilometer lang, so sollte der nächste nicht mehr als 27,5 Kilometer umfassen. "Die Fixierung auf eine konkrete Zahl ist aber wenig sinnvoll", sagt Bestsellerautor Hal Higdon ("Marathon – The Ultimate Training Guide"). Tatsächlich haben niederländische Wissenschaftler festgestellt, dass Läuferinnen und Läufer, die sich 13 Wochen lang an die 10-Prozent-Regel hielten, nicht seltener oder weniger lange verletzt waren als jene, die ihre Umfänge schneller steigerten.

Tipp: Erhöhe deinen Trainingsumfang nicht nach starren Regeln, sondern nach Maßen. Nutze dabei ruhig die 10-Prozent-Regel als Orientierungshilfe. Eine gute Alternative ist, 3 bis 4 Wochen auf einem konstanten Niveau zu verweilen, um dann erst die nächste, dafür umso größere Steigerung des Umfangs vorzunehmen. Die darf dann auch schon mal bei 20 bis 30 Prozent liegen.

8. Auf den Langen Lauf folgt ein Ruhetag

Eigentlich ist es üblich, dass man sich nach einem langen Lauf am nächsten Tag in jedem Fall trainingsfrei nimmt, um die hohe Muskelbeanspruchung auch zu verarbeiten. Tatsächlich benötigen die Regenerationsprozesse in der Muskulatur aber mehr als 24 Stunden und eigentlich sind sie sogar erst nach 48 Stunden vollständig abgeschlossen. Statt also alle 2 Tage zu laufen, scheint es ratsamer, lieber 2 Lauftage direkt nacheinander zu absolvieren und sich dafür dann 2 Tage Regeneration zu gönnen.

Tipp: Dein nächster langer Lauf ist für Sonntag geplant? Dann mache am Montag zum Beispiel noch ein zusätzliches Fahrtspiel – das heißt, laufe mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mal schnell, mal langsam, je nach Lust, Laune und Streckenprofil. Und gönne dir dafür am Dienstag und Mittwoch 2 vollkommen entspannte, lauffreie Tage – bevor du am Donnerstag wieder loslegst.

9. Fortschritte muss man ständig messen

Pulsmessung, Distanzmessung per GPS, Zwischenzeiten: Viele Läuferinnen und Läufer sind geradezu abhängig von den Daten, die ihre Funktionsuhr liefert. Nur mit ihnen lässt sich das Training so punktgenau steuern, wie ein stetiger Leistungsfortschritt es erfordert. Eigentlich sollte Technik aber dabei helfen, deinen Körper besser zu verstehen und ein Gefühl für die richtige Belastung zu entwickeln.

Tipp: Versuche den diversen Belastungsbereichen, auf denen dein Training aufbaut, Gefühlsbeschreibungen zuzuordnen: Wie schnell atmest du bei 80 Prozent der maximalen Belastung, wie fühlen sich die Muskeln an? Verzichte 1-mal pro Woche auf technische Hilfsmittel und versuche, dich nur an deinem Körpergefühl zu orientieren.

Neuere Studien, die Laufmythen in Frage stellen

Auch einige aktuelle Studien geben Anlass, alte Regeln zu überdenken. Hier eine Auswahl:

Vor dem Lauf frühstücken?

Mit gefüllten Energiespeichern fällt einem das Laufen ohne Frage leichter. Aber wenn es darum geht, ein paar Pfunde zu verlieren, ist es keine schlechte Idee, auf nüchternen Magen zu laufen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass dies die Verbrennung von Fett erleichtert. Aber Achtung: Es kostet viel Kraft und ist deshalb nicht täglich zu empfehlen!

Gleichmäßiges Renntempo?

Wissenschaftler der University of Cape Town haben die Weltrekorde über 5000 und 10 000 Meter analysiert und festgestellt, dass fast immer der jeweils erste und letzte Kilometer schneller gelaufen wurde als die übrigen Kilometer. Dazu passt eine Studie aus dem Jahr 2017, wonach bessere 5-Kilometer-Zeiten erzielt werden, wenn die erste Meile 6 Prozent schneller gelaufen wird als das durchschnittliche Renntempo.

Antioxidantien futtern?

Eine verstärkte Einnahme von Antioxidantien soll kaum bis gar keine positive Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit haben. In Untersuchungen konnte nicht nachgewiesen werden, dass sich dadurch Beschwerden verhindern oder altersbedingte Defizite ausgleichen lassen. Im Gegenteil: Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass Antioxidantien Trainingseffekte wie die positive Wirkung auf den Insulinspiegel einschränken und Regenerationsprozesse in der Muskulatur verlangsamen.

Elektrolyte gegen Krämpfe?

Die Hauptursachen für Krämpfe sind Übertraining und eine falsche Laufeinteilung, nur in seltenen Fällen ist es ein Mangel an Flüssigkeit oder Mineralien. So bekamen etwa beim "Two Oceans"-Marathon in Südafrika (56 Kilometer) vor allem jene Läufer Krämpfe, die in den letzten Tagen vor dem Rennen am meisten trainiert hatten und den Wettbewerb im Verhältnis zur Gesamtzeit am schnellsten angingen.

Die wichtigste Regel beim Laufen lautet: Du entscheidest, wie es läuft! Einige Maßgaben können helfen, dein Training zu strukturieren. Viele andere stören eher oder halten dich vielleicht sogar davon ab, die Läuferin zu werden, die du sein willst. Darum checke in Ruhe, an welche Vorgaben du dich bewusst oder unbewusst hältst und mache mit unseren Tipps ein Update deines Regelkatalogs.