Du denkst, du isst aus Hunger? Ja, das wäre schön, ist leider oft nicht der Fall. Denn meist sind es ganz andere Gründe, warum du zur Schokolade nach dem Essen, den Chips vor dem Fernseher oder dem Croissant auf dem Weg zur Arbeit greifst. Beziehungsweise ein Grund: Alles Gewohnheit.
Doch woher kommen solche Gewohnheiten? Und wie schaffst du es, ungesunde oder ungewollte Essgewohnheiten abzulegen? Nach Antworten haben wir Natascha Wilms, Ernährungs-, Gesundheits- & Emotionscoach gefragt.
Schon mal eins vorne weg: Für deine Essgewohnheiten solltest du dich weder schämen noch verurteilen. Fast alle haben sie, und du kannst deine ändern. Alleine das Bewusstsein darüber ist der erste – vielleicht wichtigste – Schritt, um dich davon zu lösen.
Was bedeutet Essgewohnheit?
Eine Gewohnheit bezieht sich immer auf Handlungen, die du unbewusst ausführst, also ohne groß zu überlegen. Es sind Verhaltensweisen, die durch vielfaches Wiederholen selbstverständlich geworden sind.
Dein Gehirn ist ziemlich clever und nutzt solche Gewohnheiten, um über gewisse Handlungen nicht jedes Mal aufs Neue entscheiden zu müssen. Es spart quasi Energie, um sich auf anderes besser konzentrieren zu können. Essgewohnheiten beziehen sich dabei auf alles, was mit der Nahrungsaufnahme zu tun hat, also sowohl die Essensaufnahme, den Zeitpunkt und die Wahl der Lebensmittel.
Wie entstehen Essgewohnheiten?
Beim ersten Mal ist es meist eine bewusste Entscheidung. Es ist ein Abwägen von Vor- und Nachteilen, ob dir etwas schmeckt, du Lust darauf hast oder du wirklich Hunger hast. Von einer Essgewohnheit spricht man dann, wenn dieser Schritt wegfällt. Doch nicht alle Essgewohnheiten wurden irgendwann rational und objektiv einer kritischen Beurteilung unterzogen. Es gibt einige weitere Faktoren, die Essgewohnheiten beeinflussen und entstehen lassen können. Natascha Wilms, unsere Expertin für emotionales Essen und selbsternannter "Schoko-Junkie", beschäftigt sich schon lange mit diesem Thema und hat uns verraten, woher diese Gewohnheiten wirklich kommen:
1. Erziehung: Essen wie das Vorbild
„Kind, iss den Teller leer, dann scheint morgen die Sonne.“ Ein Spruch, den wohl jedes Kind schon einmal von seinen Eltern gehört hat. Doch anstatt die Sonne immer scheinen zu lassen, kann er schon im Kindesalter Essgewohnheiten fördern, nämlich alles aufzuessen – ganz egal, ob man noch Hunger hat oder nicht. "Es kann Schuldgefühle beim Kind erzeugen, die über die eigenen Bedürfnisse gehen", erklärt Natascha Wilms. „Unterbewusst wollen wir die Liebe unsere Eltern und vermeiden alles, was sie abstoßend finden.“ Genauso beobachten Kinder ihre Eltern in Bezug auf Diäten, regelmäßiges Essen, die Art der Ernährung oder wie stark das Gewicht thematisiert wird. Die Eltern sind Vorbild und können so bis heute deine Essgewohnheiten prägen.
2. Konditionierung: Essen als emotionaler Ersatz
„Beim Essen geht es schon lange nicht mehr einfach nur ums hungrig sein oder satt werden“, so die Expertin. Essen ist eng mit unseren Emotionen verbunden. Das, was wir fühlen oder eben nicht fühlen, versuchen wir durch Essen zu befriedigen. Das fängt schon im Babyalter an. "Die Nahrungsaufnahme ist für das Baby sowohl Energieaufnahme in Form von Nahrung, als auch körperliche Zuwendung und Wärme. Direkt hier finden schon die ersten Verknüpfungen zwischen Emotionen und Essen statt und es wird auch schon eine Grundlage gelegt, ob du deine Bedürfnisse im Erwachsenenalter differenziert wahrnehmen kannst", erklärt Natascha. Das bedeutet natürlich nicht immer, dass sich daraus im Erwachsenenalter "schlechte" Essgewohnheiten entwickeln, kann aber ein Grund sein.
3. Gesellschaft: Essen als Norm
"Das macht man halt so." Ein Satz, der auch in Bezug auf Essen (viel zu) oft benutzt wird. Dabei sollten wir doch nicht nur essen, weil alle anderen es auch so machen. Natürlich brauchen wir Normen. Sie sind eine wichtige Grundlage, dass ein gesellschaftliches Miteinander funktioniert, weil sie Orientierung geben. In vielen Bereichen ist das notwendig. Beim Essen jedoch nicht. Gesellschaftliche Essgewohnheiten können zum Beispiel durch Zeiten des Mangels, wie die der Nachkriegszeit, geprägt werden. Wir leben hingegen im Überfluss und sollten diese Norm deshalb unbedingt hinterfragen. Essen, "weil man es so macht". Nein, bitte mach es anders.
4. Körperwahrnehmung: Essen um „gut“ auszusehen

Den eigenen Körper kritisieren die meisten von uns am heftigsten. Dabei führt eine falsche Körperwahrnehmung dazu, dass Betroffene sich für bestimmte Bereiche des Körpers so sehr schämen, dass sie sich sogar vor anderen verstecken wollen. Ein Verhalten, das Natascha Wilms bei unglaublich vielen Frauen beobachten: "Es kommt zu einer Überbeschäftigung mit dem eigenen Körper und oft auch mit der Ernährung, die für das Aussehen verantwortlich gemacht wird.“ Genau daraus entwickeln sich häufig Essgewohnheiten, die nicht nur ungesund, sondern sogar krankhaft werden können. Ganz egal ob das bedeutet, in bestimmten Momenten nichts zu essen oder all die aufkommenden Emotionen mit Hilfe von Essen zu unterdrücken. Selbst gesundes Essen kann zum Zwang und damit zu einer Krankheit (Orthorexie) werden.
5. Medialer Einfluss: Falsche Bilder und Vorstellungen über Essverhalten
Die sozialen Medien sind Dauerbegleiter des täglichen Lebens. Im Sekundentakt gibt es Einblicke in die Leben anderer Menschen. Dass man da nicht anfängt, sich zu vergleichen, ist wirklich nicht leicht. So geht es ziemlich schnell, dass man sich in falschen Vorstellungen und Bildern verrennt. Doch die wenigsten zeigen, was und wie viel sie den ganzen Tag wirklich essen. Social Media ist kein Maßstab. "Trotzdem führen sowohl das dünne Schönheitsideal genauso wie der Body-Positivity-Hype zur Veränderung der Selbstwahrnehmung", warnt Emotionscoach Wilms.
6. Soziale Komponente: Essen zur Selbstoptimierung
Andauernd sind wir den Meinungen anderen ausgesetzt. Ungefiltert prasseln sie auf uns herab und formen uns – ganz still und heimlich ohne, dass wir es bemerken. Plötzlich stehen dann Selbstzweifel vor der Tür und reden uns ein wir seinen nicht gut genug. Um das zu kompensieren, entwickeln sich leicht neue Essgewohnheiten. Denn "das Essverhalten wird oft dazu genutzt den eigenen Körper zu optimieren und zu manipulieren, um so einem bestimmtem Ideal zu entsprechen."
Wann sollte ich Essgewohnheiten ändern?
Nur weil du aus Gewohnheit isst, muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass es schlecht ist. Dennoch weiß die Expertin, dass es durchaus Anzeichen gibt, die darauf hindeuten, dass deine Essgewohnheiten in eine ungesunde Richtung abdriften. Achte auf diese 5 Signale, um dein eigenes Essverhalten zu hinterfragen. Du solltest deine Ernährung dringend ändern:
- Wenn merkst, dass du einen großen Food-Fokus hast und sich deine Gedanken ständig um Essen drehen.
- Wenn merkst, dass du nach dem Essen vermehrt mit einem schlechten Gewissen kämpfst und zu restriktivem Verhalten neigst (Ausgleich durch Sport oder Kalorien sparen)
- Wenn merkst, dass du in emotionalen Situation zu Essattacken neigst und dich dabei fremdgesteuert fühlst.
- Wenn merkst, dass du Lebensmittel in dich reinstopfst, von denen es dir hinterher schlecht geht, es aber einfach nicht lassen kannst (unterbewusst oft Selbstverletzung)
- Wenn merkst, dass du zu dogmatischen Denkmustern beim Essen neigst und es nicht mehr genießen kannst.
Was sind schlechte Essgewohnheiten?
Hand aufs Herz. Es gibt sie. Essgewohnheiten, von denen jeder weiß, dass sie nicht besonders gut sind. Einerseits, weil sie nichts mit Hunger zu tun haben, andererseits weil sie auch gesundheitlich bedenklich sind. Da der erste Schritt der Veränderung immer Bewusstsein ist, kommen hier unsere Top 5, die du anfangen solltest zu hinterfragen:
- Feste Essenszeiten: Dafür solltest du dich vor jeder Mahlzeit fragen, ob du wirklich Hunger hast oder nur isst, weil 12.30 Uhr Zeit zum Mittagessen ist.
- Essen vor dem Fernseher: Das ist Ablenkung pur, bei der Hunger- oder Sättigungsgefühl definitiv keine Chance haben.
- Frust- und Stressessen: Essen hilft – wenn du Hunger hast. Aber nicht gegen Frust oder Stress.
- Essen nach Vorschrift: Verbotene Lebensmittel, erlaubte Lebensmittel? Alles Gewohnheit. Und vielleicht solltest du dich fragen, auf was du wirklich Appetit hast.
- Diäten: Reine Manipulation des eigenen Essverhaltens – und das permanent. Das kann gar nicht gut gehen.
Wie kann ich (schlechte) Essgewohnheiten ändern?

Zuerst einmal: Wir wollen hier nicht anfangen mit "gut" oder "schlecht". Immerhin geht es bei dem ganzen Gewohnheits-Thema vor allem um das Bewusstsein und die Achtsamkeit. Und das bedeutet auch, mitfühlender und liebevoller mit sich zu sein und sich vor allem für nichts zu verurteilen oder noch kritischer zu sein, als wir es ohnehin schon mit uns selbst sind. Nichtsdestotrotz kann es sehr heilsam sein, sich von verschiedenen Gewohnheiten zu trennen und sie zu ändern.
Es ist ein Weg, bei dem jeder Schritt zählt. Manche werden einfacher sein, manche werden dich mehr herausfordernd. Ein guter Tipp der Expertin: "Viele Wege führen zum Ziel." Was auch bedeutet, dass es mal auf und ab, steil und kurvig werden darf. Außerdem solltest du dir das zu Herzen nehmen:
1. Beobachte dich und führe ein Essenstagebuch: Das kann helfen, um Essgewohnheiten zu erkennen. Wichtig ist, dass es kein Beobachten sein soll, um dich zu bewerten, sondern ein Beobachten, um zu erkennen. Das bedeutet auch dich immer wieder zu fragen, warum du in welchen Momenten isst. Du kannst das "Tagebuch" in digitaler Form führen, zum Beispiel mit Hilfe einer App, oder einfach analog mit Zettel und Stift.
2. Hinterfrage deine Essgewohnheiten: „Es ist wichtig zu verstehen woher die eigenen Essgewohnheiten kommen und sie zu hinterfragen. Zu verstehen, wie der Körper funktioniert, was er braucht und wann und ob man das neigt Emotionen wegzuessen.“
3. Nimm an, was ist: Warum du isst, ist zwar nicht egal, aber an dieser Stelle nicht wichtig. Um etwas zu ändern, solltest du das, was dich bewegt und deine Gründe des Essens annehmen, statt dich zu verurteilen.
4. Suche neue Gewohnheiten: Loszulassen ist nicht leicht. Es könnte aber leichter werden, wenn du dir neue Gewohnheiten suchst. Statt nach dem Essen zur Schokolade zu greifen, trinke eine Tasse Tee. Statt vor lauter Frust zu essen, gehe eine Runde spazieren. Statt genaue Essenszeiten festzulegen, plane ein grobes Zeitfenster ein und nehme es dir, wenn du wirklich Hunger hast.
5. Informiere dich und frage nach Hilfe: "Es ist ganz normal, dass man als Laie durch all dieses (Halb-)Wissen überfordert sein kann. Also lohnt es sich eine Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen", empfiehlt die Expertin. Wie und wo du eine gute Ernährungsberatung findest, liest du hier.
Was und wann du isst, sagt also viel mehr aus, als du bisher dachtest. Vielleicht gibt es einige Essgewohnheiten, du die ändern willst. Dann tue es. Beginne langsam. Schritt für Schritt. Und wenn du das Stück Schokolade nicht mehr nur aus Gewohnheit isst, kannst du es beim nächsten Mal vielleicht noch mehr genießen.