Körperspannung: Wie wichtig ist sie wirklich?

Körperspannung
Warum du dich viel öfter mal richtig hängen lassen solltest

Veröffentlicht am 06.08.2024
Warum du dich viel öfter mal richtig hängen lassen solltest

Wer den Physiotherapeuten Freddie Murray in seiner privaten Praxis im vornehmen The Ned Hotel in London besucht, trifft auf einen Mann, der gebeugt, mit hängenden Schultern und gekreuzten Beinen dasitzt, während er den Beschwerden seiner Patienten auf den Grund geht. Das erstaunt bei einem Experten, dessen berufliche Aufgabe es ist, Hochleistungssportler und Prominente körperlich optimal auszurichten.

Zu Murrays Patienten gehören Fußballer der Premier League und Popstars wie Dave Grohl, der Sänger der Band Foo Fighters, den der Physiotherapeut nach einer Beinverletzung wieder auf Vordermann gebracht hat. Wie kann es sein, dass ein Spezialist, der andere wieder aufrichtet, selbst so wenig Haltung an den Tag legt? Laut Murray ist es genau diese körperliche Entspanntheit, die deine Muskeln fit macht und die du deshalb für den größten Teil des Tages anstreben solltest.

"Muskeln sind wie Lichtschalter, sie sollten entweder an oder aus sein, und keiner dieser beiden Zustände bereitet dem Körper Probleme", sagt er. "Doch wenn die Muskeln, während man sich eigentlich ausruht, wie ein Dimmer ständig im Hintergrund aktiv sein müssen, ermüden sie rasch, was zu erhöhter Anspannung, Muskelsteifheit und Schmerzen führt." Tatsächlich sind viele Experten inzwischen überzeugt, dass Stress, der dich permanent unter Spannung hält, im Verbund mit auf die Aktivierung und Stärkung von Muskelgruppen fokussierten Trainingsprogrammen zu vermehrten Muskelverletzungen führt.

Daueranspannung ist problematisch

Der ständige Stress, dem dein Körper ausgesetzt ist, kann zu einer ganzen Reihe von gesundheitlichen Problemen führen. Ein Beispiel für die negativen Folgen dieser Daueranspannung ist das Zähneknirschen: Das unbewusste Zusammenpressen der Kiefermuskulatur führt zu chronischen Schmerzen und Zahnproblemen.

Fast schon zu einer Volkskrankheit geworden sind Probleme des Bewegungsapparats sowie entlang der gesamten Wirbelsäule. Die meisten Menschen leiden unter Verspannungen von Schultern und Nacken sowie Schmerzen im unteren Rückenbereich. Die treten vor allem dann auf, wenn es bei der Arbeit oder zu Hause nicht richtig läuft. Wenn man doch nur mal den Aus-Knopf finden und entspannen könnte!

Das Problem dabei: In der heutigen, auf Leistung und perfekte Körperbilder fixierten Zeit verkaufen sich simple Selbstoptimierungstricks besser als grundlegende Kritik. Tipps, wie man durch körperliches Training seine Haltung korrigiert oder die Muskeln stärkt, gibt es im Dutzend billiger, aber kaum einer traut sich, die Ursachen zu benennen – die Fixierung auf makellose Körper und unbedingten Arbeitswillen. "Die Gesellschaft schätzt es nicht, wenn die Leute krumm dastehen und ihren Bauch entspannen – das sieht auf Instagram nicht gut aus", erklärt Murray. "Aber es ist keine Sünde, sich zu entspannen, auf dem Sofa zu fläzen und die Bauchmuskeln locker zu lassen."

Sich mal so richtig hängenzulassen, so betont Murray, ist tatsächlich normal und gesund, schon deshalb, weil es den Körper ermutigt, vom sympathischen Nervensystem, das unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion antreibt, auf das parasympathische System umzuschalten, das dafür zuständig ist, Energie einzusparen, den Herzschlag zu senken und den Körper zu entspannen.

Der Experte empfiehlt Regeneration statt Stärkungsübungen

Auch Peter O’Sullivan, Professor für muskuloskelettale Physiotherapie an der Curtin University im australischen Perth, bemüht sich, die vorherrschende Meinung in Bezug auf die Behandlung von Muskelschmerzen ins Wanken zu bringen. Nach seiner Überzeugung beruht das Problem großteils auf der Maxime, dass starke Bauchmuskeln unabdingbar für die Fitness seien. Dieser fatale Trend setzte ihm zufolge vor 15 Jahren ein. Damals begannen die Ärzte, Patienten, die unter chronischen Rückenschmerzen litten, Bewegungsübungen zur Stärkung des Rumpfs zu verschreiben. Man sagte ihnen, sie sollten ihre Bauchmuskeln anspannen und mit statischen Liegestützen den quer verlaufenden Bauchmuskel Transversus abdominis, den am tiefsten sitzenden Muskel im Bauchbereich, trainieren. Bei einigen funktionierte das, bei vielen wurde das Problem dadurch aber zum Dauerzustand.

In den letzten Jahren hat O’Sullivan die wissenschaftlichen Studien zum Thema analysiert und glaubt nun, den Fehler gefunden zu haben. "Eine verstärkte Aktivierung der Bauchmuskeln führt zu einer Aktivierung der Rückenmuskulatur und einer Anspannung der Wirbelsäule", erläutert Murray die These seines Kollegen. Infolgedessen verspannt sich der gesamte Körper.

O’Sullivans Erkenntnisse haben zudem zu einer Neubewertung der Relevanz einer "guten", aufrechten Haltung geführt. "Bis dato konnte keine einzige Untersuchung einen Zusammenhang zwischen der Körperhaltung und Verletzungen oder Schäden des Bewegungsapparats oder der Entwicklung von Schmerzzuständen nachweisen", sagt Eyal Lederman, Osteopath und Dozent am University College in London. "Wenn man Schmerzen hat, dann ist die Haltung, die man beim Sitzen oder im Stehen einnimmt, eher nicht der Grund dafür."

Was ist denn eigentlich die "perfekte Haltung"?

Tatsächlich gibt es so etwas wie eine perfekte Körperhaltung gar nicht. Das zeigt zum Beispiel eine in der Fachzeitschrift Manual Therapy veröffentlichte Studie, in der 295 Physiotherapeuten befragt wurden, was ihrer Ansicht nach eine neutrale Wirbelsäulenposition oder gute Sitzhaltung darstelle. Die Mehrheit sprach sich für eine Sitzposition aus, die "der natürlichen Form der Wirbelsäule entspricht und ohne übertriebenen Muskeltonus bequem und/oder entspannt erscheint".

Murray zufolge ist auch bei akuten Rückenschmerzen die natürliche Regeneration wirkungsvoller als hektische Stärkungsübungen. "Tendenziell verschwinden die Beschwerden nach 6 bis 8 Wochen meist von selbst, weil die Wirbelsäule so stark ist. Den Bauch anzuspannen ist bestenfalls unnötig und schlimmstenfalls schädlich." Wenn du ständig die Muskeln aktivierst, lernst du nie, auf die natürliche Stärke deines Körpers zurückzugreifen.

Stress, Muskelspannung und Schmerzen verstärken sich gegenseitig: Stress verursacht Spannungen, die wiederum führen zu Schmerzen und damit zu mehr Stress. Wenn der äußere Stress sich nicht verringern lässt, kann man immerhin dafür sorgen, dass die (Muskel-)Spannung reduziert wird, und so den Teufelskreis unterbrechen. Indem du Muskeln lockerst, verminderst du nicht nur schmerzhafte Spannungen, sondern sendest ein Signal an das zentrale Nervensystem, in dem sowohl Stress- als auch Schmerzerfahrungen verarbeitet werden. "Da die Schmerzerfahrung ihren Sitz im Nervensystem hat, wird sie leicht durch Gefühle und Stimmungen beeinflusst", sagt Osteopath Lederman. "Dies könnte erklären, warum Entspannung, die ebenfalls ein Prozess innerhalb des zentralen Nervensystems ist, dazu führen kann, dass die Schmerzen nachlassen."

Wie immer gilt, das richtige Maß zu finden

Den Experten zufolge solltest du dich auf den Einsatz jener Muskeln konzentrieren, die du wirklich zur Bewegung brauchst. "Viele Menschen glauben, dass sie ihre tiefe Rumpfmuskulatur korrekt einsetzen, doch in Wahrheit überlasten sie sie", erklärt die Pilates-Trainerin Lynne Robinson. "Um sich gut zu bewegen, benötigt man Muskeln, die mit der optimalen Stärke und Kontraktion arbeiten und von einem gesunden Nervensystem in der richtigen Reihenfolge und im richtigen Maß aktiviert werden."

Gut aufeinander abgestimmte Gelenke haben eine gute Bewegungsreichweite, sind stabil und haben Bänder von idealer Länge und Spannung sowie ein Fasziennetz, das genau das richtige Maß an Nachgiebigkeit und Straffheit aufweist. Pilates ist eine gute Trainingsmethode, um diese Muskelharmonie zu erreichen. "Dabei trainiert man den Körper, locker zu stehen, zu sitzen und sich zu bewegen, damit dies zu einem Automatismus wird, der völlig unbewusst abläuft", so Robinson.

Murray seinerseits ist daran interessiert, die Idee einer ständigen Aktivierung der Muskeln ganz aufzugeben und einen holistischen Ansatz zu verfolgen. Ihm geht es darum, Stress abzubauen. "Jeder hat mal Verspannungen und Schmerzen. Doch inzwischen wissen wir, dass der Körper – einschließlich des Rückens – von Natur aus robust ist", sagt er. "Wenn Schlaf und körperliche Betätigung allerdings gestört sind und man unter starkem Stress leidet, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass man sich verspannt und Schmerzen hat. Ich habe gelernt, Schlaf mehr denn je wertzuschätzen – ich nehme jeden Abend ein heißes Bad, um zu entspannen, und wechsele meine Trainingssitzungen ab, weil Bewegungsvielfalt wohltuend ist." Und er ergänzt: "Den Lebensstil zu ordnen ist ein großartiges Mittel, um das körperliche und geistige Wohlbefinden zu verbessern." Also gönn dir öfter mal eine Pause und entlaste deinen Körper.

Test: Brauchst du eine Pause?

Mit diesem Schnelltest kannst du überprüfen, ob sich dein Körper im Kampf-oder- Flucht-Modus befindet:

  • Platziere eine Hand auf deinem Bauch und eine auf deiner Brust und atme normal ein.
  • Falls sich die Hand auf deiner Brust zuerst hebt, nutze zum Atmen deine Nacken- und Atemmuskulatur und nicht dein Zwerchfell.
  • Wenn du dir eine Minute Zeit nimmst, um das Atmen tief aus dem Bauch heraus zu üben, entspannt das unmittelbar die genannten Muskeln.

Gönn dir etwas Ruhe: Übungen zum Entspannen

Mit diesen simplen, aber wirksamen Übungen kannst du Muskelverspannungen entgegenwirken und dich gezielt "hängenlassen":

1. Bauchatmung

Nimm dir mehrmals pro Tag jeweils 2 Minuten Zeit, um deine Atmung wieder zu normalisieren. Platziere dafür eine Hand über dem Schambein und atme durch die Nase tief in den Bauch hinein. Achte darauf, wie sich die Hand hebt und senkt. Mache tiefe Atemzüge und gehe dann weiter zur lateralen Brustatmung. Lege dafür deine Hand auf den unteren Brustkorb und atme tief in den unteren Brustkorb und Rücken hinein.

2. Körperscan

Nimm dir 20 Sekunden Zeit, um deinen Körper auf angespannte Bereiche zu scannen. Mache dir das Gewicht deiner Füße auf dem Boden, deiner Oberschenkel und der Hüfte auf dem Stuhl und deines auf der Rückenlehne lastenden Oberkörpers bewusst. Fühle, wie die Arme schwer werden und der Nacken weich. Wiederhole die Übung mehrmals täglich, wenn du Anspannung verspürst oder die Schmerzen zunehmen.

3. Schultern kreisen

Stell dir vor, du würdest mit den Schultern ein Viereck malen. Schiebe beide Schultern etwas vor, so, als bewegtest du sie den Boden von zwei Schachteln entlang, und dann aufwärts entlang der Vorderseite der Schachteln. Ziehe sie entlang der Oberseite der Schachteln nach hinten zurück, und lasse sie anschließend zurück auf den Schachtelboden sinken. Wiederhole das ganze 5-mal, mit durchgestrecktem Rückgrat.

4. Kopf kreisen

Wenn du feststellst, dass sich dein Nacken bei der Arbeit am Schreibtisch mal wieder verspannt, mache diese einfache Kopfübung. Stelle dir dafür eine 8 direkt vor deiner Nase vor. Verfolge die Konturen der 8 mit deiner Nase nach, dabei soll sich der gesamte Kopf mitbewegen. Beginne und ende in der Mitte. Wiederhole das mehrmals in beide Richtungen, das entspannt die kleinen Muskeln im oberen Nackenbereich.

Körperspannung ist in manchen Situationen wichtig, oft aber völlig unnötig. Um deinem Körper und deiner Muskulatur zu entspannen und zu Wohlbefinden zu verhelfen, solltest du lieber öfter gezielt lockerlassen und neben der Seele auch den Körper baumeln lassen. Mit unseren Tipps gelingt dir das sicher schnell.