"Reisen ist nie eine Frage des Geldes, sondern des Mutes."
Dieser Satz aus Paulo Coelhos Roman "Aleph" ist so wahr, dass er wehtut. Weil er knallhart unser Ausreden-System entblößt. Er ist jedoch auch eine Steilvorlage für empörte Gegenargumente: "Was für ein Unsinn!" – "Von Mut allein kann ich mir auch kein Flugticket kaufen!" – "Soll die Ausrüstung etwa vom Himmel fallen?" Nun, statt stumpf mitzupöbeln, wollte ich es genauer wissen und bin der Frage nachgegangen, wie viel Abenteuer vor meiner Haustür liegt. Wenn nämlich auch Abenteuer – genau wie das Reisen – nur Einstellungssache wäre, dann müsste ich dafür nicht nach Botswana, Alaska oder in den Himalaya. Dann könnte ich da anfangen, wo ich gerade bin, und mit dem, was ich habe.

Nur, was ist überhaupt ein Abenteuer? Ich habe mich in diesem Fall auf klassische Outdoor-Herausforderungen beschränkt. Klar, auch der Besuch eines Festivals, das Paintball-Event oder ein Seitensprung kann abenteuerlich sein. Die Frage ist nur: Wo fange ich dann an, wo höre ich auf ? Und vor allem: Was würde meine Frau dazu sagen?
Hier kommen 3 meiner kurzen, aber intensiven Dates mit der Natur und den Grenzen meiner Komfortzone.
So viel vorab: Coelho ist nicht dumm.
1. Mikro-Abenteuer: Durch die Nacht radeln

Vorsichtig hebe ich die leeren Glasflaschen hoch. Aber da ist nichts. Offenbar gibt es in diesem gottverlassenen Hotel klare Regeln. Jeden kleinsten Rest wegschütten, bevor das Leergut auf den Hof wandert. Der Parkplatz, auf dem ich mich am Leergut zu schaffen mache, gehört zum Hotel Dömitzer Hafen. Die Eingangstür ist längst verschlossen, nur auf ein paar Zimmern brennt noch Licht. Es ist kurz nach 22 Uhr. Hier bedeutet das: tiefste Nacht. Das habe ich nicht bedacht, als ich heute Nachmittag im Westen Hamburgs losgefahren bin.
Ich habe kaum etwas dabei: mein Rennrad, die Klamotten, die ich am Körper trage, Ersatzschlauch, Pumpe, zwei Trinkflaschen, ein paar kalte Pfannkuchen. Unterwegs an einer Tanke oder einem Kiosk Wasser nachfüllen, das war der Plan. Und jetzt ist hier alles mausetot. Würde ich irgendwo klingeln und würde mir tatsächlich jemand öffnen, dann nur mit einer Schrotflinte im Anschlag. So fühlt es sich zumindest an.
Zwar ist mein Durst noch erträglich. Nur: Wie es aussieht, werde ich in den kommenden 7 Stunden keine weitere Gelegenheit finden, meine Trinkflaschen aufzufüllen. Und meine Beine sollten arbeiten wie ein Uhrwerk. Denn ich will nach Berlin. Morgen früh um 10 Uhr bin ich mit meinem langjährigen Kumpel Simon am Brandenburger Tor zum Frühstück verabredet. Um 16 Uhr habe ich dieses Ziel in den Routenplaner meines Handys getippt, die Option "Fahrrad" gewählt – und bin einfach losgefahren. Ich setze meine letzte Hoffnung darauf, dass es im rund 2 Stunden entfernten Wittenberge einen Bahnsteig mit Getränkeautomat gibt, aber ich habe schon kurz vorher doch noch Glück. In einem Gewerbegebiet höre ich Stimmen vom Hintereingang einer düsteren McDonald’s-Filiale. Tatsächlich: Auf den allerletzten Drücker füllen mir zwei Mitarbeiter, die gerade abschließen wollen, die Trinkflaschen mit Leitungswasser auf. "Wo willst du hin? Nach Berlin? Jetzt?"

Die nächsten Stunden sind einsam und gerade deshalb voller Magie. Stumme Landstraßen, holprige Waldwege und Wildgänse über der Elbe. Ich fahre wie in einem ewig dahinfließenden Traum. Der Mann mit dem Hammer kommt erst kurz nach Sonnenaufgang: Die Radwege werden schlechter, die Anstiege länger und ich immer müder. Um kurz vor 10 Uhr rolle ich trotzdem durch das Brandenburger Tor. Es gibt wohl nur wenig Orte, die sich besser als Ziel einer Tour eignen. So viel Geschichte und so viel Symbolkraft. "324 Kilometer", sagt mein Tacho. Ich torkele mit Simon in ein Café, tausche Geschichten und nehme den Zug zurück nach Hamburg.
Keine 24 Stunden nachdem ich aufgebrochen war, bin ich zurück. Habe ich das echt durchgezogen? Und wenn in so kurzer Zeit mit so wenig Aufwand solche Erlebnisse möglich sind, wie soll ich dann jemals wieder meine eigenen Ausreden glauben? Verdammt!
2. Mikro-Abenteuer: Mit dem Floß auf die See

Ich muss an Huckleberry Finn denken, als wir die flüchtig zusammengebundenen Stämme ins Wasser lassen. Unser Floß ist gerade mal einen Quadratmeter groß, aber es soll ja auch nur unser Gepäck und die Kamera-Ausrüstung meines Freundes Kai tragen. Nur, das tut es noch nicht. Wir sägen noch mehr der dünnen Totholzstämme, die in Ufernähe rumliegen, auf die richtige Länge zu und setzen einfach noch eine Lage davon obendrauf.
Vor uns liegt der Laacher See, Deutschlands größter Vulkansee. Wir sind heute Morgen in Köln in die Regionalbahn gestiegen und bis Andernach gefahren. Von dort ging’s dann zu Fuß weiter. Um den See könnten wir auch herumgehen. Das wäre sicher schön, aber kein Abenteuer. Nur mit Badehosen bekleidet, staksen wir in das Wasser und schieben das Floß dabei vorsichtig vor uns her. An einem der äußeren Stämme haben wir eine Schnur befestigt und an deren Ende wiederum eine Schlaufe aus einem Packriemen geknotet. Abwechselnd legt sich einer von uns diese Schlaufe um die Schulter und zieht das Floß, während der Andere schiebt.
Zug für Zug gleiten wir weiter hinaus auf den Vulkansee, der aus dieser Perspektive noch viel größer erscheint als vom Ufer aus. Zweieinhalb Kilometer sind es bis auf die andere Seite. Die Szenerie strotzt nur so vor Schiffbruchromantik. Ich schwimme hinter dem Floß und beobachte Kai, wie er das zusammengeschusterte Ding in der gleißenden Sonne Meter für Meter weiter zur Uferböschung zieht, hinter deren Hängen auch ein Südsee-Dschungel liegen könnte. Das klare Wasser schwappt gegen die Holzstämme, gurgelt Lieder von Freiheit und Freundschaft.

Der See ist in seiner Mitte bis zu 50 Meter tief. Erst kurz bevor wir tatsächlich auf der anderen Seite ankommen, merke ich, wie kalt mir nach rund 2 Stunden im Wasser geworden ist. Ich kann es kaum erwarten, mir meine – hoffentlich noch trockenen – Klamotten überzuziehen. Nur, erst mal müssen wir hier raus. Der Morast, der uns empfängt, ist so weich, dass wir eine ganze Weile suchen müssen, bis wir eine Stelle zum Anlanden finden. Zitternd laden wir das Gepäck ab und lassen unser Floß zurück. Ziehen zu Fuß weiter, auf Feldwegen und Trampelpfaden Richtung Nordwesten.
Zwei Tage, zwei Nächte. Wir übernachten da, wo es uns gefällt, draußen unterm Sternenhimmel. Nach einem grandiosen Finale im urigen Tal der Ahr steigen wir in Altenahr in den Zug zurück nach Köln. Was unser Floß jetzt wohl macht? Ich muss grinsen, als ich beim Auspacken die kleine Klappsäge aus dem Rucksack hole, mit der wir unsere Baumstämme zurechtgesägt haben. Vielleicht kehren wir ja noch einmal zurück. Und zimmern uns dann aus dem kleinen Ding ein Hausboot.
3. Mikro-Abenteuer: Übernachten im Wald

Eigentlich wollte ich viel früher los. Aber als ich vor meiner Haustür in den Bus steige, ist es schon später Nachmittag. Der Himmel ist wolkenverhangen und hat die für Hamburg typische Farbgebung: grau. Ich muss einmal umsteigen, fahre mit dem zweiten Bus über die Autobahn durch den Elbtunnel bis in die Ausläufer der Schwarzen Berge am südlichen Rand des Stadtgebiets. Als ich an einer verlassenen Haltestelle als Letzter aussteige, bin ich am Ziel. Na ja, fast. Irgendwo in dem dunklen Wald, der vor mir liegt, soll sich der Hasselbrack befinden, die mit 116 Metern höchste Erhebung Hamburgs. Der Wald ist schwarz, und ich habe keinen Plan, nur mein Handy.
Ich hätte mir eine vernünftige Karte besorgen und sie gut studieren sollen, dann wäre ich nicht abhängig von dem Empfang des GPS Signals. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe reicht aus, um zu sehen, ob ich noch auf dem schmalen Wanderpfad bin und wo sich dieser gabelt. Nach 45 Minuten intuitiver Nachtwanderung am Nachmittag bin ich da: auf dem Dach "meiner" Stadt.
Ich kann es kaum glauben, aber da ist wirklich ein Gipfelstein. Und es kommt noch besser: Etwa einen Meter daneben ist eine kleine Metallkassette in den Boden eingelassen. Erwartungsvoll hebe ich den Deckel an, der lediglich mit einem Stein beschwert ist. Die Hamburger mögen ja als ein bisschen zugeknöpft gelten, aber Humor haben sie. In der Metallkassette befindet sich ein Gipfelbuch. Der letzte Eintrag darin ist 2 Tage alt: "Kamen zufällig hier vorbei. Was für ein Matsch! Berg heil von Gabi & Thomas."

Ich schließe die Metallkassette und hänge im Schein der Stirnlampe meine Hängematte auf. Dann verordne ich mir selbst noch ein paar Liegestütze und lege mich frisch erwärmt in meinen Schlafsack. Bis zum nächsten Morgen habe ich viel Zeit, um zu beobachten, wie hier die kräftigen Windböen die Kiefern in alle Richtungen wiegen, viel Zeit, um darüber nachzudenken, ob das hier ein sicherer Platz ist, aber auch genügend Zeit, um Argumente dafür zu sammeln. In jedem Fall ausreichend Zeit, um ein paar Stunden zu schlafen.
Ich bin früh wach, trage mich ins Gipfelbuch ein und mache mich wieder auf den kurzen Weg in die Zivilisation. Es tut gut zu wissen, dass es im Vorgarten einer Millionenstadt wie Hamburg tatsächlich noch so etwas wie Wildnis gibt. Zumindest das Gefühl davon. Wenig später bin ich wieder in der Hamburger Innenstadt und fahre direkt zu einem Termin mit einem Kunden. "Hasselbrack?" Hat der noch nie gehört. Woher auch? Bei mir ist das anders: Für mich ist dieser Name ab sofort Musik.
Mikroabenteuer gibt es überall, sie liegen direkt vor deiner Nase, beginnen vor deiner Haustür. Sie sind wie Kurzurlaub und Erlebnisreise in einem. Probiere einfach eines aus, dann kannst du bald nicht mehr damit aufhören!