Stresssucht: Wie sie entsteht, was sie bewirkt

Stresssucht
Leidest du unter Stress – oder bist du süchtig danach? Oder vielleicht beides?

Veröffentlicht am 24.09.2024
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Foto: Abigail Keenan / Unsplash.com

Diese beiden Männer aus der Schweiz haben die Ruhe weg: Professor Erich Seifritz und Dr. Malte Christian Claussen. Die Wissenschaftler forschen an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich zum Themengebiet Stresssucht.

Seifritz ist Direktor und Chefarzt der Psychiatrischen Uni-Klinik in Zürich und Autor des Buches "Bis er uns umbringt? Wie Stress Körper und Gehirn attackiert – und wie wir uns schützen können" (Hogrefe, um 20 Euro). Claussen ist Chefarzt der Klinik für Depression und Angst am Psychiatriezentrum Münsingen. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie forscht und lehrt auch an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er ist zudem Editor-in-Chief "Sports Psychiatry – Journal of Sports and Exercise Psychiatry" und zusammen mit Professor Seifritz Herausgeber des "Lehrbuchs der Sportpsychiatrie und -psychotherapie". Im Doppel-Interview erklären die Mediziner, wie diese Art von Sucht entsteht und wie Betroffene es schaffen, davon wieder loszukommen.

Ist Stresssucht medizinisch anerkannt, oder handelt es sich dabei eher um eine Modebezeichnung?

Seifritz: Stresssucht fällt in den großen Bereich der nicht stoffgebundenen Süchte. Und diese Süchte können genauso intensiv sein wie z. B. eine Alkoholsucht.

Ist denn ein bestimmter Menschentyp besonders anfällig für solche Süchte?

Claussen: Nein, das können ganz unterschiedliche Typen sein. Personen mit Stresssucht sind eher zwanghaft, sehr genau und auch sehr leistungsorientiert. Für alle Süchte, auch für die nicht stoffgebundenen, gilt: Es wäre möglich, dass der Patient durch sie eine andere psychische Erkrankung kompensiert. Eine Sportsucht z. B. tritt häufig zusammen mit einer Essstörung oder einer Depression auf. Stresssucht kann der Versuch sein, eine Depression und Selbstwertproblematik abzuwehren.

Wie entsteht diese Sucht nach Stress überhaupt?

Claussen: Stresssucht hat kognitive, verhaltensverändernde und physiologische Symptome. Es gibt mehrere Wege in die Sucht. Wenn der Körper Stress hat, werden Hormone ausgeschüttet: Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, vielleicht auch Endorphine und andere Stoffe, welche die Emotionen beeinflussen. Dann fühlt man sich gut und entwickelt den Wunsch, dieses Gefühl öfter zu erleben. Die psychologische Komponente besteht in der Aufwertung des Selbstbildes. Man merkt: Wenn ich mehr Stress habe, kann ich mehr erledigen und fühle mich besser. Auf der dritten Ebene ist Leistung in unserer Gesellschaft sehr akzeptiert und hat viele Verstärker auf einer sozialen Ebene.

Warum hat Stress einen so hohen sozialen Wert?

Seifritz: Stress zeigt, dass man beschäftigt ist, dass man etwas tut, dass man gebraucht wird. Und dass man verschiedene Dinge parallel machen kann. Man bringt damit zum Ausdruck, dass man produktiv ist – und bekommt dafür ordentlich Bewunderung.

Was unterscheidet positiven Stress, den der Mensch sogar braucht, um glücklich zu sein, von negativem Stress?

Claussen: Wenn man ein Spiel der liebsten Fußballmannschaft schaut und diese 1:0 gewinnt, dann war’s zwar stressig beim Zuschauen, aber am Ende der Partie sieht man es doch positiv, weil die Mannschaft gewonnen hat. Auch die Spieler gehen mit hohem Stress in das Spiel, und falls sie dann noch verlieren und ausgebuht werden, ist das negativer Stress. Das gibt es auch in Arbeitssituationen. Letztlich hängt viel davon ab, ob man am Ende Erfolg hat oder nicht.

Ist eigentlich Dauerstress dasselbe wie Stresssucht?

Seifritz: Dauerstress erlebt man passiv, dem ist man ausgesetzt. Wenn uns der Chef dauernd kritisiert, zu viel Arbeit aufhalst und nicht wertschätzt, leiden wir unter Dauerstress. Diesen suchen wir aber nicht, sondern halten ihn nur aus. Auf die Dauer macht das krank, Burn-out oder Depressionen können eine Folge sein. Jemand, der stresssüchtig ist, hat natürlich auch dauernd Stress. Aber er sucht ihn sich selbst, weil ihm der positiv wahrgenommene Stress unmittelbar erst einmal guttut. Mindestens zu Beginn spricht man dann von Eustress, dem positiven, aktivierenden und befriedigend wirkenden Stress.

Woran erkennt man, dass man in einer Sucht steckt?

Seifritz: Etwa daran, dass sich Entzugssymptome entwickeln, sobald man nicht tut, was man normalerweise tut. Die Probleme von Menschen mit einem sehr hohen Leistungsniveau treten z. B. nicht in der Woche auf, sondern am Wochenende. Man merkt: Ich werde traurig, bekomme Ängste, werde innerlich unruhig, fühle mich verloren und kann mit mir nichts anfangen. Manchmal sagt auch das soziale Umfeld sehr deutlich, dass man sich verändert hat, nicht mehr ausgeglichen ist. Stress kann somit auch eine Flucht vor anderen Problemen sein.

Claussen: Erste Warnsignale dafür, dass man sich zu sehr verausgabt, weil man mehr Stress sucht, als einem eigentlich guttut, sind vor allem Konzentrations- und Schlafprobleme.

Oft rät man zu Sport bei Stress im Job. Ist das wirklich die Rettung?

Claussen: Man braucht Regenerationszeiten, und man braucht Phasen, in denen man aktiv ist. Wer nach einer harten Woche noch ein hartes Training absolviert, setzt den Stress fort. Das potenziert sich auf Dauer. In meinen Sprechstunden muss ich die Patienten im Regelfall eher bremsen. Sport kann aber auch eine sehr gute Möglichkeit sein, sich zu regenerieren, man muss nur den richtigen Sport auswählen, z. B. Yoga, das empfehle ich oft. Wenn ich 60 oder 70 Stunden die Woche arbeite und noch auf einen Bewegungsumfang von 100 Kilometern beim Laufen komme oder jeden Tag zum Krafttraining gehe, dann merke ich auch, dass ich müde bin. Dann gehe ich besser mal in die Sauna oder ins Schwimmbad. Damit man wirklich runterkommt. Das muss man ganz individuell bei sich justieren.

Wieso fallen gerade die Wochenenden vielen Menschen schwer?

Seifritz: Weil sie viel Stress gewohnt sind. Das kennen sie, damit können sie umgehen, da fühlen sie sich sicher. Wenn der Tag anders strukturiert werden muss, kommen sie in Not.

Wenn man den Verdacht hat, an Stresssucht zu leiden: Kann man das überhaupt selbst in den Griff kriegen?

Seifritz: Hat man keinen Appetit mehr, kann sich nicht mehr konzentrieren, schläft schlecht, gerät wiederholt in Konflikte, sind das Alarmzeichen. Dann sollte man den Hausarzt kontaktieren, um sich beraten zu lassen. Je früher Patienten in die Behandlung kommen, desto früher können wir etwas tun. Dann sind die Interventionen auch kürzer.

Wie findet man im Notfall einen geeigneten Therapeuten für sich?

Claussen: Falls der Hausarzt niemanden empfehlen kann, kann man sich an die psychiatrisch-psychotherapeutische Abteilung eines Krankenhauses oder einer Uni-Klinik wenden. Man kann dort auch Dinge mit jemandem besprechen, der an die Schweigepflicht gebunden ist.

Wie kann ich generell verhindern, dass ich mich zu sehr unter Druck setze?

Claussen: Wir überschätzen im Alltag häufig unsere Einflussmöglichkeiten und unterschätzen den Zufall. Wir können viel weniger beeinflussen, als wir in der Regel glauben. Wenn man einen tollen neuen Job antritt, kann es ja auch passieren, dass das Unternehmen wenig später verkauft und der Arbeitsplatz gestrichen wird. Das konnte ja niemand vorhersehen. Viele Menschen messen ihre berufliche Leistungsfähigkeit daran, was sie selbst in der Hand haben. Wir alle glauben, wenn wir uns nur intensiv genug anstrengen, kommt auch der Erfolg. Aber das ist ein Trugschluss. Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht alles kontrollieren können. Man kann die 100 nie erreichen. Das klingt vielleicht erst mal enttäuschend, ist aber in Wirklichkeit sehr befreiend, weil es den Druck nimmt, ständig auf etwas Unerreichbares hinzuarbeiten.