Die Angst geht um. Studien belegen es: Allein 2020 ist die weltweite Anzahl an Betroffenen, die eine neu entwickelten Angsterkrankung erlitten, deutlich angestiegen. Ein Wunder ist das nicht – die Bedingungen waren dafür ein großer Antrieb, und sie sind es nach wie vor.
Erst über 2 Jahre Corona-Pandemie, dann im Februar die Schocknachricht: In Europa kommt es zum Krieg, die russische Invasion der Ukraine beginnt. Die im Minutentakt vermeldeten Kriegs-Updates sowie das unbekannte globale Ausmaß sorgen bei vielen für eingravierte Sorgenfalten. Bei einigen sogar für ein allmählich entgleistet Angstsystem, kurz: Angststörungen.
Was es damit auf sich hat, warum Frauen häufiger daran erkranken und ob du betroffen sein könntest, erfährst du in diesem Artikel.
Was ist eine Angststörung?
Angst ist die wohl wichtigste Emotion des menschlichen Körpers, denn sie kann uns buchstäblich das Leben retten. Sie ist die körperliche Antwort auf Gefahr, die das menschliche Angstzentrum erkennt, um uns zu schützen. Heißt: Gut regulierte Angst ist durchaus sinnvoll. Sie versetzt den Körper in Alarmbereitschaft und stellt Ressouren wie das Stresshormon Adrenalin zur Verfügung, um auf eine Bedrohung mit Flucht oder Gegenwehr zu reagieren.
Bei Angststörungen tritt die Angst allmählich unbegründet und immer häufiger auf. Sie ist nur noch schwer kontrollierbar und längst nicht mehr ein nützlicher Reflex auf reale Gefahren.
"Von einer Angststörung spricht man dann, wenn es durch intensive Ängste zu einer relevanten Beeinträchtigung des normalen Lebens und der Lebensqualität gekommen ist", so Prof. Dr. Bernd Löwe, Klinikdirektor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin am UKE. Betroffene entwickeln Ängste auch in eigentlich harmlosen Situationen, sie empfinden sie stärker und häufiger als real angemessen wäre. Selbst wenn Betroffene erkennen, dass die eigene Angstreaktion unangemessen stark ausfällt, sind sie kaum in der Lage, dies zu beeinflussen.
Wie entsteht eine Angststörung?
Wenn du Angst hast, spielt sich das nicht nur in deinem Kopf ab, es macht auch etwas mit deinem Körper. Das merkst du an dem unangenehmen Gefühl, das dann deinen Körper dominiert. "Wenn wir Angst haben, werden über das Nervensystem Stresshormone ausgeschüttet, also zum Beispiel Adrenalin und Noradrenalin. Dabei werden auch die Muskeln aktiviert, sodass wir im Prinzip sofort losspurten könnten", erklärt der Experte.
Wenn du aufgrund des Ukraine-Krieges mehr als sonst in deine Gedanken versunken bist, ist das verständlich und zunächst nicht schlimm. Ein Problem entsteht erst dann, wenn du deine Sorgen nicht mehr willentlich loslassen kannst. Denn Angst ist eigentlich eine Emotion für ausgewählte Momente. Tauchen deine Sorgen aber immer wieder auf oder verschwinden erst gar nicht, leidet dein Körper unter langanhaltendem Stress. Die Angst setzt sich im Körper fest.
"Die Ursache einer Angststörung hat aber immer mehrere Faktoren", erklärt Professor Löwe. Heißt im aktuellen Fall: Zu den immer wiederkehrende Sorgen rund um den Ukraine-Krieg und Corona kommen weitere Dispositionen und Stressfaktoren wie zum Beispiel Überlastung im Job, finanzielle Probleme oder Stress mit dem Partner hinzu. Eine nicht unbedeutende Nebenrolle können auch bestimmte Gene spielen, wie diese Studie zeigt. Und auch aus dem Gleichgewicht geratene Botenstoffe im Gehirn können zu einer Angststörungen beitragen – dazu zählt unter anderem das Glückshormon Serotonin.
Welche Arten von Angststörungen kann die aktuelle Lage auslösen?
Ob Krieg oder Pandemie: "Grundsätzlich können solche Ereignisse unterschiedliche Arten von Angststörungen auslösen", sagt Löwe. Man unterscheidet zwischen diesen Typen:
- Generalisierte Angststörungen sind sehr vielseitig. Die Betroffene leiden an nicht eindeutig definierten Ängsten und Befürchtungen. Die Angst ist ein permanenter Zustand und kann mit der Zeit immer ausgeprägter und umfangreicher werden.
- Panikattacken treten meist unvorhergesehen auf und dauern einige Minuten an. "Die Betroffene hat dabei eine außergewöhnlich große Angst, oft bis hin zur Todesangst", so Prof. Löwe. Panikattacken gehen einher mit körperlichen Symptomen wie zum Beispiel Herzklopfen, Schwitzen oder Zittern. Lies hier, wie du einer Panikattacke vorbeugen kannst.
- Spezifische Phobien werden in unterschiedliche Typen aufgeteilt: zum Beispiel Tier-Typ (z. B. Angst vor Spinnen.), situativer Typ (z. B. Angst vor dem Flugzeug) oder Verletzungs-Typ (z. B. Angst vor Spritzen)
- Agoraphobie: ist die Angst vor öffentlichen Menschenansammlungen und öffentlichen Plätzen
Professor Löwe geht davon aus, dass die durch die aktuelle Situation ausgelösten Störungen am ehesten den generalisierten Angststörungen zuzuordnen sind, begleitet möglicherweise häufiger von Panikattacken. Die Entwicklung einer spezifischen Phobie ist, je nach Auslöser, ebenfalls möglich. Seit der Corona-Pandemie kam es zum Beispiel häufiger zu Angst vor Keimen und Ansteckung.
Warum erkranken Frauen häufiger an Angststörungen?
Studien zeigen: Frauen trifft es doppelt so häufig wie Männer. Sind Frauen womöglich ängstlicher und emotionaler? Endgültige Erklärungen dafür gibt es nicht, aber Hypothesen.
Einige Wissenschaftler wie die Psychiaterin Dr. Monika Vogelgesang schreiben die Unterschiede typischen weiblichen Geschlechtsmerkmalen zu: "Die bescheidenere Muskelkraft, der geringe Testosteronspiegel und das kleinere Aggressionspotenzial", so die Autorin und Fachärztin für Psychotherapie, würden bei Frauen öfter zu einem Gefühl größerer Bedrohung führen als bei Männern.
Eine andere Meinung vertritt die Gendermedizin, die sich mit der geschlechtsspezifischen Erforschung von Krankheiten befasst: Sie vermutet eine hohe Dunkelziffer von Angsterkrankungen auch bei Männern. Ihre Erklärung: Bei Frauen werden Angsterkrankungen einfach viel öfter festgestellt als bei Männern. Das könne an der Art und Weise liegen, wie Frauen im Vergleich zu Männern beim Arzt ihre Beschwerden schildern. Es könnte aber auch daran liegen, dass Männer mit psychischen Erkrankungen seltener ärztliche Hilfe suchen.
Woran erkennt man eine Angststörung?
Nicht jede Frau, die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine jetzt mehr Ängste hat als früher, erfüllt automatisch das Kriterium einer klinisch relevanten Angststörung. Ob du wirklich eine solche entwickelt hast, dabei können dir deine Antworten auf diese Selbsteinschätzungs-Sätze (Quelle: AOK-Gesundheitsmagazin) helfen. Treffen mehrere Punkte auf dich zu, solltest du mit deiner Hausärztin, einer Expertin für Psychosomatik oder einer Psychotherapeutin darüber sprechen, ob es sich tatsächlich um eine Angststörung handelt.
- Ich denke täglich über meine Ängste nach
- Meine Lebensqualität ist durch meine Ängste erheblich eingeschränkt
- Ich werde immer depressiver durch meine Ängste
- Ich bekämpfe meine Ängste mit Alkohol
- Meine Partnerschaft und Arbeit leidet unter meinen Ängsten
Was kann ich selbst gegen Angstattacken tun?
Viele Betroffene versuchen ihre Ängste und Sorgen zunächst selbst in den Griff zu bekommen. Das ist auch erst einmal in Ordnung. 7 Tipps haben wir für dich hier zusammengestellt:
1. Autogenes Training: Kannst du z.B. in dem Original Übungsbuch Autogenes Training, mit Anleitungen des Begründers der Selbstentspannung Prof. J.H. Schultz, lernen.
2. Yoga bei Angst und Panikattacken: In dem Selbsthilfebuch von Karo Wagner und Anna Kramer findest du Anleitungen für mentales und köperliches Training in Ausnahmesituationen.
3. Progressive Muskelentspannung: Auf der CD führt dich die Entspannungstrainerin Seraphine Monien mit entspannt-sympathischer Stimme durch die klassische Muskelentspannung nach Jacobsen und Fantasiereisen am Meer
Ergänzend rät Professor Löwe::
4. Sei körperlich aktiv: Du bist eher ein Sportmuffel? Macht nix. Auch Spazierengehen tut’s. Lenk dich ab, am besten geht das an der frischen Luft. Vielleicht fängst du einfach mit dem Joggen an?
5. Führe Gespräche mit Freunden und Verwandten: Redet über Verschiedenes aber ruhig auch mal über deine Sorgen. Das befreit und hilft bei der Verarbeitung. Außerdem bekommst du mal eine andere Perspektive zu hören. Das kann dir eine klarere Sicht auf die Dinge verschaffen.
6. Mach eine Informationspause: Immer wieder News aus dem Kriegsgebiet, immer wieder neue, verstörende Bilder, immer... Stopp! Leg Smartphone und Fernbedienung einfach mal zur Seite. "Man muss nicht jeder Fernsehsendung verfolgen, sondern kann sich auch mal sagen: "Heute mache ich mal eine Pause", so Löwe.
Doch lass dabei nicht außer Acht, dass es sich bei deinen Ängsten auch um eine ernsthafte Angststörung handeln könnte. Und diese durch Selbsthilfe zu bändigen, das schaffen die wenigsten. Wenn du mit der Selbstbehandlung also wenig Erfolg hast, solltest du zur Abklärung unbedingt einen Psychotherapeuten bzw. -therapeutin aufsuchen.
Wie werden Angststörungen behandelt?
Vorab: Bis man in Deutschland einen Therapeuten-Termin bekommt, vergeht leider oft viel Zeit. Manchmal kann ein angstlösendes Antidepressivum eine Übergangslösung oder eine Ergänzung sein. Wann sie Sinn machen, erfährt du hier. Bei einer richtigen Angststörung ist Psychotherapie aber in jedem Fall erforderlich.
Hast du einen Termin ergattert, wird Therapeut oder Therapeutin mit dir gemeinsam entscheiden, welche Behandlungsart für deine Angsterkrankung in Frage kommt. "Der Therapeut untersucht, wie sich die Angst bei der Betroffenen äußert und unter welchen Umständen sie entstanden ist. Außerdem schaut er sich die Lebensgeschichte der Patientin an. Dabei sollte er auch zusätzliche Belastungen ansprechen, zum Beispiel Probleme im Familienkreis. Danach analysiert er, was Angst für die Patientin eigentlich bedeutet, also wie groß die Angst ist und inwiefern sie das Leben einschränkt", so der Facharzt für psychosomatische Medizin.
Wie die Therapie am Ende aussieht, hängt ganz davon ab, was die Betroffene gerade braucht: "Man kann zum Beispiel eine Therapie machen, bei der man versucht, sich seinen Ängsten stückweise zu stellen." Zuerst den kleinen, dann den größeren, besser noch umgekehrt. Das nennt der Therapeut Expositionstherapie. "Eine ergänzende Möglichkeit ist eine Entspannungsbehandlung, bei der man lernt, wie man die Angst am besten abfedert, wenn sie wieder größer wird", so Löwe.
Dass das Kriegsgeschehen nicht weit von unserer Grenze entfernt Ängste auslöst, ist normal. Nehmen sie überhand, solltest du dir Entspannungstechniken aneignen und Informationspausen einlegen. Solltest du anhand unserer Kriterien erkennen, dass du eine Angststörung entwickelt hast, such dir professionelle Hilfe!